Donnerstag, 30. August 2012

Im Seelen-Knast

Vor Tagen ist in unserem Stadtteil Nürtingen-Roßdorf ein Mann gestorben, der viele Jahre lang als Sonderling mitten im Zentrum gewohnt hat. Ein hochintelligenter Mann, vor vielen Jahren Ingenieur in einer Fabrik, jedoch nicht mehr arbeitsfähig, weil er psychisch krank war. Sein Leben bestand aus langen Gängen in die Stadt und zurück, stets eine Dose Bier vor dem Gesicht und bei Sitzpausen immer mit Zigarette. Er war versorgt, betreut und galt als ein Original. Ging ihm das Geld aus, das ihm vom Vormund portioniert wurde, hat er geschnorrt wie ein bettelndes Kind. Seine aggressiven Ausfälle von früher haben sich im Alter gelegt.

Die Kinder vom benachbarten Kindergarten kannten den Mann und hatten Platz für ihn in ihren Fantasien und Rollenspielen. Sie hatten ein Spiel erfunden, das ganz schlicht "Nagel" hieß, denn genau so hieß der Mann: Dietrich Nagel, den alle nur "den Nagel nannten". Manche meinen, es sei kein Fehler, dass "der Nagel" nun "weg ist". Ein Mensch, behandelt wie ein von der Müllabfuhr vergessener Gelber Sack. Dabei hat mindestens jeder zweite von uns, wenn nicht gar alle, seine eigene persönliche Macke. Zum Glück nicht so gravierend wie bei Herrn Nagel, den seine Macke aus diesem Spiel namens Alltag genommen hat, in dem jeder seine nicht immer frei gewählte Rolle zu spielen hat.

Mitten in unserem Lädle ist Herr Nagel umgefallen. Magendurchbruch, Notarzt, Krankenhaus, rascher Tod. Sein Körper dürfte keinen Widerstand mehr gehabt haben.

Für unsere Stadtteilzeitung habe ich einen Nachruf konzipiert, den ich auf Bitten hier vorab veröffentliche.


Kürzlich saß er auf der Bank an der Streuobstwiese am Roßdorfweg. Die Beine lässig übereinander geschlagen wie beim Smalltalk, im Konzern, auf der Entscheider-Ebene. Seine weit übers Gesicht gezogene Kapuze verscheuchte meine Fantasie. Es war klar, wer da sitzt. So sehe ich im Gehege die kleine Schildkröte und registriere: Ah, da ist sie ja! Und gleich beim Gasgeben, nach dem Bahnübergang vom Täleszügle, wenn das Auto den Roßdorfweg hinauf Anlauf nimmt, hebt der Mann seine Bierdose, die er praktischerweise immer direkt unter dem Kinn trug, zum Mund, und nimmt den nächsten Schluck. Einen von vielen Tausend. Oder Zehntausend. So wie Millionen auf dieser Welt, ohne dass sie als krank gelten.
Dietrich Nagel war krank. Krank zuerst in der Seele, dann im Leib. Nicht weil er gesoffen hat: Er hat gesoffen, weil er krank war! Und auch in dieser Sekunde ging mir durch den Kopf, wann er wohl seinen letzten Schluck nehmen würde?
Tage später sah ich ihn beim Bäcker sitzen, Zigarette rauchend, den Pappbecher mit Kaffee vor sich am Tischchen. Ein Gentleman der Gebärden - mein Vater konnte ähnlich stilvoll seine Zigaretten als Rauchopfer darbringen - und ich ahnte nicht, dass dies einer der letzten Schlucke des Mannes sein sollte, den im Roßdorf viele nur „den Nagel“ zu nennen sich herausnahmen. Wenige Tage später ist dieser einsame Heilige Gottes im Lädle umgefallen. Und wenig später war er tot. „Weißt du schon“, sagte meine Frau, „Herr Nagel ist gestorben“, und ich dachte, selten hat man einen so erwartet zügig gehen sehen.
Sie, liebe Leser, wundern oder entrüsten sich, dass ich vom Heiligen Gottes rede. Ich will es erklären. Manche Menschen sagen, dies oder jenes hat mir Gott auferlegt. Das bedeutet: Auf mich drauf gelegt, oben, eine unerwünschte Beschwer, etwas Untragbares. Oft genug sehen wir das moralisch, und wir konstruieren uns eine Verpflichtung, das Unerträgliche tragen zu sollen. Und wir wissen alle, wie das schwer zu Tragende aussieht, welche Namen es haben kann. Es heißt Oma Muss Ins Pflegeheim, es heißt Unser Kind Ist Behindert, es heißt Ich Liebe Meinen Mann Nicht Mehr, es heißt Ich Saufe Weil ich Angst Habe samt der Kehrseite Ich Habe Angst Weil Ich Saufe. An dieser Angst litt nicht nur Dietrich Nagel bis in den Tod. An solchen Ängsten nagen wir alle, an kleinen und an gespenstisch großen. Auch wenn wir uns vorübergehend haben einrichten können in der Welt und in dem Bild von uns, das wir im Spiegel sehen, um anschließend Pickel und Falten zu kaschieren.
In der christlichen Überlieferung gibt es das Bild vom Kreuz Auf Sich Nehmen, vom Kreuz Tragen. Dietrich Nagel hat sein Kreuz öffentlich getragen. Früher auffällig, im Alter eher unauffällig. Er wurde ganz sacht zum Wrack, hat seine Rolle, die er sich beileibe nicht ausgesucht hat, dieses Leiden an sich selber, am Missverhältnis zwischen Entwurf und Ausführung, täglich auf die Bühne gebracht. So sehe ich ihn, in seinem Seelen-Knast.
Wenn wir auch nur ein wenig glauben, dass Gott für jeden von uns ein Konzept hat (und mir fällt das oft bis zur Unerträglichkeit schwer), dann hat er den Dietrich Nagel für das auserwählt, was der bis zum Umfallen hat repräsentieren müssen: Ein versoffener Sonderling, der obszöne Reden führt, ein pöbelnder Tagedieb, selten zu freundlicheren Dialogen bereit, einer, dessen Leben scheinbar still steht.

Dieses Auswählen, das Bestimmen und Festlegen einer Rolle, einer Aufgabe, wird im Lateinischen durch das Wort Sanctus bezeichnet. Das wird gewöhnlich mit Heilig übersetzt, heißt aber ursprünglich festgesetzt. Wir kennen das von Sanktionen. Wer nun glaubt, dass der Heilige Gottes mit Namen Jesus sich dem Willen seines Vaters im Himmel gebeugt hat und sein Kreuz getragen hat, als Beispiel, Vorbild und Befreiung für alle, dem kann der Gedanke nicht schwer fallen, auch für den verstorbenen Dietrich Nagel eine vom Herrn bestimmte Karriere anzunehmen.
Alle kannten ihn, die meisten gingen ihm aus dem Weg. Wenige gingen seinen Kreuzweg mit. Manche haben ihm ein Schlückchen gereicht, einen Kaffee oder eine Zigarette. So wie Veronika, die ihr Tuch gegeben hat um den Schweiß vom Kreuztragen abzuwischen. Ich selber habe es nie geschafft, ihn anzusprechen, zu sagen, Trinken wir ein Bier zusammen, oder Scheißleben heute mal wieder. Es ist leicht zu sagen, er möge mir das verzeihen. Ich meine es ehrlich. Und doch wieder mal zu spät. Wie immer.

2 Kommentare:

  1. Ein sehr anrührender, warmherziger "Nachruf"!

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  2. Der schönste Nachruf, den ich je über einen Nűrtinger gelesen habe!

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