Donnerstag, 17. März 2011

Leserbrief 02

Nachdem sich Frau Merkel, die Bundeskanzlerin, beim Salto Atomaris vom vergangenen Wochenende immer noch nicht das Kreuz gebrochen hatte, titelte Wolfgang Molitor auf der Ersten Seite der Nürtinger Zeitung: "Typisch Merkel!" Er lobte die explosive Energie, mit der Frau Merkel die Wende der Wende der Wende der deutschen Atomenergiepolitik angesprungen ist: Hoch auf die Seil, wie war sie herrlich anzuschaun! Oh mein Papa, war eine schöne Kinstlär!
Diese Frau hat sich tatsächlich zum Vorturner und Übervater aller Kronprinzen der CDU gemacht. Entweder hat sie die Burschen entsorgt oder diese sich untertan gemacht. Was letztlich auf dasselbe hinausläuft. Noch vor einer Woche steckte die CDU bis zum Anschlag in den Hintern der Atomenergiewirtschaft, hat Profit vor Sicherheit gesetzt, von Risiken nichts wissen wollen und die so genannten Restrisiken als kalkulierbar eingestuft. Ihr treuer Vasall Mappus aus Mühlacker hatte sogar erwogen, Bundesumweltminister Röttgen  aus dem Amt zu treiben, weil der etwas nachdenklicher war also er.
Heute, nach nur vier Tagen, erklärt dieselbe Partei man müsse sofort alle älteren Atomkraftwerke abschalten. Denn damit hätten sich Grüne und Rote in der Vergangenheit schwer getan. Gottseidank sei die CDU so entscheidungsfreudig, nach der japanischen Katastrophe nunmehr die richtigen Schritte in die richtige Richtung zu tun.

Talleyrand (1754 - 1838)
Im Gleichschritt dekorieren die Stuttgarter Nachrichten um. Während DIE ZEIT auf Seite Eins fordert: Keine Lügen mehr, Frau Kanzlerin! entblödet der politische Chefkommentator der Stuttgarter Nachrichten sich nicht, Merkels politisches Windspiel  als staatsmännische Raffinesse zu bewundern. Getreu dem Motto des gewaltigsten Opportunisten der jüngeren Geschichte, Bischof Charles Maurice de Talleyrand-Périgord: Hochverrat, Sire, ist eine Frage des Datums (Zu Zar Alexander I. zur Zeit des Wiener Kongresses. siehe Wikipedia). Dieses französische Chamäleon hat alle politischen Phasen vor während und nach der Französischen Revolution nicht nur überstanden. Talleyrand ist stets oben geschwommen, als Fettauge, immer auf der richtigen Seite der Wurstsuppe. Zur Not auch im Ausland, In England, den USA, Talleyrand am Tellerrand sozusagen. Um genau dann zurück zu kehren, wenn es günstig für ihn war, opportun, ein Opportunist also. Als solche erweist sich zurzeit die komplette CDU. Ohne Scham. Ohne Skrupel. Allein aus Angst, ihre Hochburg Baden-Württemberg geschleift zu bekommen. Denn das wäre der Einstieg in den Ausstieg von Frau Merkel.
Talleyrand mit den Zeichen
seiner wechselnder Loyalität.
(zeitgenössische Karikatur)
Die deutsche Atomkarawane hat nun den Kurs gewechselt. Nicht wegen Japan sondern wegen drei Landtagswahlen in allernächster Zeit. Für drei Monate werden die Regelungen ausgesetzt - ein Moratorium nennt man das - die vor Monaten noch ohne den Bundesrat durchgeboxt worden sind und eine gewaltige Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke freigegeben haben. Soll alles nicht mehr wahr sein. Die angeblich sicheren Kraftwerke plötzlich so marode, dass sie über Nacht vom Netz müssen. Die Energieriesen sind derweil auf Tauchstation, Merkel und Mappus haben das Gesangbuch gewechselt und Kommentator Molitor schreibt die Propaganda dazu.
In meiner Wut darüber, und weil mir als Nürtinger nichts anderes übrig bleibt als die Stuttgarter Nachrichten mit zu beziehen, wenn ich die Nürtinger Zeitung lesen will, in diesem Ärger habe ich unmittelbar nach Molitors Artikel einen Leserbriefe verfasst. Er ist nicht erschienen. Heute nun erfahre ich per Telefon, die Redaktion der Nürtinger Zeitung habe eine Regelung, nach der von ein und demselben Schreiber pro Woche nur ein einziger Leserbrief erscheinen könne. Nie gehört. Ich kenne fast alle Redakteure der NtZ - davon aber hat noch keiner was erzählt. Einmal hatten die sogar am selben Tag zwei Briefe von mir im Blatt, weil sie den ersten 12 Tage haben liegen lassen. Sei´s drum: Vor kurzem hatte ich schon mal einen geschrieben. Von dieser Regelung wusste ich aber nichts, sonst hätte ich mir doch nicht die Zeit gestohlen. Deswegen setze ich diesen Leserbrief nun hier rein, so, wie ich ihn abgeschickt hatte:

Reinmar Wipper, Nürtingen. Zum Tagesthema „Typisch Merkel“ vom 15. März. Während in Japan eine Jahrhundertkatastrophe aus den Atomkraftwerken quillt, glühen die bloßgelegten Brennstäbe der deutschen CDU in rot und grün. Vor einer Woche noch ist man von den schwarzen Atomkraft-Propheten höhnisch verlacht worden, wenn man die energiereichen Taten von Ministerpräsident Mappus wegen technischer Bedenken in Frage gestellt hat. Heute aber ist bunt geworden, was vordem schwarz war, krumm was gerade, richtig was falsch.
Ich fühle mich als Bürger beleidigt durch die Art und Weise, wie die Christdemokraten sowohl mit ihrem politischen Glaubensbekenntnis umgehen, das ich ganz gut kenne. Und mit den Wählerinnen und Wählern: Seit sie um ihre Macht bangen müssen, steht alles zur Disposition. Sie ringeln die Zunge, wie jene Schlange, die Eva einen Apfel angedreht hat. Damals ist erhoffte Klugheit als Nacktheit in die Welt gekommen. Das biblische Spiel um des Kaisers neue Kleider. Die haben ja gar nichts an, heißt es da.
Es geht nicht mehr um verschiedene politische Auffassungen und Richtungen. Es geht um den Kern der Verlässlichkeit und der Glaubwürdigkeit. Wolfgang Molitor nennt dies dreist „Typisch Merkel“. Die Kanzlerin mache den Weg frei für die Abschaltung von Atommeilern, so schreibt er. Überschriften können furchtbar lügen. Umgekehrt: Die Katastrophe von Fukushima macht diesen Weg frei, und drei Landtagswahlen. Sollten die von der CDU erneut gewonnen werden, wird die CDU ihr grünes Mäntelchen rasch wieder ablegen. Über Nacht haben die Schwarzen alles eingestampft, was zuvor zum zentralen Credo ihrer Atom-Politik gehört hat. Und Frau Gönner (Umweltministerin) kritisiert die Opposition: Man instrumentalisiere die japanische Katastrophe für den Wahlkampf. Auch hier umgekehrt: Der Merkel´sche Ausstieg und die Oettinger´sche Neubewertung der Atomkraft sind Luftblasen, in denen die CDU das Ersticken im Wahlkampf überstehen möchte.
Nach wie vor lautet die entscheidende Frage: Haben CDU und FDP vor der Laufzeitverlängerung für uralte Kraftwerke wie Neckarwestheim deren Sicherheitslage überprüft? Oder nicht? Wählen gehn!

Donnerstag, 10. März 2011

Laudatio für Hellmut Kuby

Der Nürtinger Architekt und Pazifist Hellmut Kuby erhielt am Aschermittwoch 2011 von der Nürtinger SPD das Ei der Heckschnärre verliehen für seinen aufrechten bürgerschaftlichen Einsatz für Belange der Stadt und der politischen Moral.

Aus meiner Laudatio hier die wesentlichen Abschnitte. Persönliches wurde an den durch ..... markierten Stellen übersprungen.


Ich darf Ihnen, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, die Verdienste und die persönlichen Maßstäbe des Mitbürgers Hellmut Kuby skizzieren. Er hat ein ganzes Berufsleben lang in Nürtingen gelebt und gewirkt, mit und in seiner Familie, in einer Werkgemeinschaft von nicht alltäglichen, authentischen Architekten. Er ist kein Ungehorsamer. Man kennt ihn nicht aus den Schlagzeilen. Er denkt und denkt nach, und er meldet sich zu Wort. Er hat geplant und gebaut, Bestehendes und Schwindendes, er misst sich selbst und andere an Werten, die ihm maßgeblich geworden sind. Dafür wird Hellmut Kuby heute das Ei der Heckschnärre zum Brüten anvertraut.
Er ist kein Anführer und Antreiber, kein Aufrührer und Umtreiber. Dies muss betont werden. Es ist ja Mode geworden, Gegenpositionen grundsätzlich als nicht staatstragend abzutun.
Kuby fällt nichts ein, wie der Bildhauer Alfred Hrdlicka gemeint hat - einem Baumeister sollte ohnehin nichts einfallen - ihm fällt was auf! Und daraus zieht er Konsequenzen. Bis hin zur Empörung! Und dann spricht er darüber, schreibt und handelt.
Dieser Pfälzer aus dem linksrheinischen Edenkoben, wo sein Vater eine Weinhandlung führte, groß geworden nur unweit vom Hambacher Schloss, dem süddeutschen Bergwerk der Gedankenfreiheit, hat in vielen Jahrzehnten das Nürtinger Revier zu seinem eigenen gemacht. Seine Familiengeschichte, von seinem Onkel Erich Kuby geschrieben, trägt den Titel „Lauter Patrioten“.
Hellmut Kuby ist den mitunter rohen Veränderungsabsichten im Biotop Nürtingen nicht ausgewichen. Ein Kriterium der Eierwürde hat er allerdings nicht erfüllt: Er hat nie geschärrt und geschnärrt. Er war und ist nie laut. Aus der Distanz sich annähernd, die Menschen beobachtend und die Standpunkte taxierend, pflegt er sich dazu zu stellen und erst mal zuzuhören. Ein Gentleman der Diskussion und des schlanken Widerwortes.
Er ist sanft auf die Füße derer getreten, die holzten und bolzten, und er hat sich nicht einschüchtern lassen. Er argumentiert, süffisant hin und wieder, schärfer als gewohnt, wenn er auf Ignoranz stößt, die sich zum Maßstab erheben will. Er hatte und hat es nicht nötig, mit der Abrissbirne zu kommen, wie oftmals diejenigen, gegen deren Absichten er sich zur Wehr gesetzt hat. Auch im Streit hat er immer abgewogen, Varianten und modifizierte Lösungen angeboten und dafür geworben.
.....
Als es in Nürtingen um einen Bunker ging, einen Atomschutzbunker, mitten in der Stadt, unter dem geplanten ALDI-Neubau, am unteren Ende vom Heiligkreuz, da haben Hellmut Kuby und sein Kollege Robert Maier klipp und klar im Rathaus erklärt, dass sie von diesem Teil der Planung entbunden sein wollten, sollte man von ihnen verlangen, den in ihren Augen sinnlosen Bunker ins Fundament zu legen.
Die Sache gipfelte in einem Bürgerentscheid, der allerdings erst beim Rathausneubau, aber eben in derselben unsinnigen Vorsorgeabsicht durchgesetzt worden ist. Am 16. März 1986 haben 47 Prozent der Abstimmungsberechtigten den Bunker vom Tisch gefegt. Ein unerhörtes Ergebnis, von dem jeder Kommunalpolitiker nur träumen kann. Die kollektive, bürgerliche Vernunft hatte gesiegt über die gewählte Vernunft ihrer Vertreter.
In jüngerer Zeit hat er durch einen kleinen Kniff viel bewirkt. Nach dem Studium der Umbaupläne zum Hölderlinhaus meinte er, offenbar sei weder dem Gemeinderat noch der Bevölkerung klar, dass aus sechs Zentimetern im Plan 12 Meter in natura werden. Also hat er auf der Schloßgartenstraße einen Pflasterstein, der die äußerste Ecke des geplanten Neubaus darstellte, rot lackiert. Alle Welt staunte, auf welche Enge dann der freie Platz vor dem Haus schrumpfen würde. Bald war der Abriss vom Tisch, und heute fehlt nur noch die Aufhebung des gemeinderätlichen Beschlusses.
Das hohe Maß an kritischer Reflexion, auch im Wettstreit der Meinungen, habe ich an Hellmut Kuby von Anfang an geschätzt. Wir standen vor 15 Jahren in den lehrreichen Auseinandersetzungen um die Hochspannungsleitungen, die über unser Grundstück im Roßdorf und über unsere südlichen Stadtteile geführt werden. Wir haben einen letztlich aussichtslosen Kampf gegen die Dominanz der Neckarwerke geführt. Bis in die Illustrierten haben wir es gebracht - und verloren, vor dem Verwaltungsgericht in Mannheim.
Politik, Wirtschaft und Gerichtsbarkeit zogen damals an einem Strang. Wir sind ausgetrickst und vorgeführt worden als besserwisserische Nörgler - und wir wissen es dennoch besser: Man wollte die Bürger und ihre Anliegen weder wahrnehmen noch ernst nehmen! Wir lehnten Profit ab, der das Allgemeinwohl vorschiebt.
Nach dem Urteil haben die Neckarwerke veröffentlichen lassen, natürlich sei es nicht zuerst um die Nahversorgung, also um das Allgemeinwohl gegangen, sondern um die Teilnahme am europäischen Stromverschiebebetrieb zwischen Frankreich und Ungarn. Das Allgemeinwohl als Dreingabe großer Konzerngeschäfte.
Damals schon ging es um die Grundfrage politischen Handelns, die heute in Nürtingen, in Stuttgart und an vielen anderen Orten stürmisch aktuell geworden ist und mittlerweile sogar von den Regierenden adaptiert wird: Die Bürger vor großen Entscheidungen rechtzeitig mitnehmen. Dieser Slogan wird aber so lange Wortstroh bleiben, wie den Sprüchen keine Taten folgen. Die entscheidende Frage lautet: Enden die demokratischen Ansprüche der Bürger mit dem Verlassen der Wahlkabine? Werden politische Ämter nach der Wahl in eine Art demokratischen Absolutismus entlassen, bis erneut gewählt wird?
.....
Schließlich ist von dem Pazifisten Hellmut Kuby zu reden, dem unermüdlichen Mahner gegen den Krieg. In Tarnanzügen kommt der Krieg daher, geschminkt durch sprachliche Pirouetten. Kuby´s Haltung zu jeder Art von Waffengang kann man nicht abfragen, so wie ich es als Schöffe in Widerspruchsverfahren für Kriegsdienstverweigerer erleben musste. Haltung ist nie spektakulär. Geht sie nach außen, verflacht sie zum Plakat. Haltung ist verletzlich. Man kann sich mit ihr weder panzern noch sich hinter ihr verkriechen. Haltung ist unberührbar und gleichzeitig ungeschützt. Wollte Haltung glänzen, würde sie zur Selbstinszenierung gerinnen, prostituiert auf dem Boulevard der Eitelkeiten.
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Widerstand ist ein Begriff, der seit den Kontroversen um Stuttgart 21, um den Großen Forst in Nürtingen, um das Verstümmeln oder unkenntlich Machen des Städtischen die Gesellschaft spaltet. Die einen wittern Verrat, sehen Ordnung und Gesetze, Regeln und Verträge ausgehebelt. Die anderen sehen im Widerstand den einzigen Weg, dieser Walze von behaupteten Sachzwängen auszuweichen. Hellmut Kuby erhält das Ei der Heckschnärre, dieses Symbol des sich Einmischens, weil er widerständig wird, wenn er das Wesentliche gefährdet sieht. Das Wesentliche aber ist für ihn die christliche Maxime „Missbrauche deinen Einfluss nicht dazu, das Leben anderer zu erschweren“.
Diese Form des Widerstands ist konstruktiv und konservativ im eigentlichen Wortsinn. Sie konserviert aber nicht, sie packt nicht in Konserven, sie bewahrt. Sie bewahrt das Bewährte vor dem Zugriff kurzlebigen Profits. Sie hat die Menschen im Sinn und hält diese für klug genug, gemeinsame, mehrheitliche Entscheidungen zu treffen, auch zwischen den Wahltagen. Dieser konstruktive Widerstand gehört zu dieser seit Jahren proklamierten Gesellschaft der Bürgerinnen und Bürger, für die ja die Auszeichnungen über unsere Stadt nur so vom Himmel fallen, für das „Wirgefühl“, das vor Jahren schon im Nürtinger Rathaus ausgerufen worden ist.
In solcher Haltung wird Denken und Handeln gebündelt in der Art der Schwarmintelligenz, wenn Einzelwissen und Einzelimpulse koordiniert werden, wie wenn Tausende von Vögeln oder Fischen sich im Schwarm bewegen, oder Zigtausend Ameisen oder Bienen ihre Staaten gestalten, steuern, stärken und schützen.
Diese Intelligenz bleibt nicht in der Wahlkabine am Kleiderhaken. Sie quillt hinein in die Stadt, geht mit anderen zusammen, in Fachgremien, in Laiengremien, auf Demonstrationen, in der Leserbriefspalte und bei Lokalterminen. Diese Form des Widerstands wird mit dem blödsinnigen Wort Wutbürger nicht beschrieben. Sie heißt Mitmachen, sich Einmischen, Abwägen, Bewerten, Warnen, Korrigieren. So hat Hellmut Kuby in Nürtingen jahrzehntelang und beispielhaft gewirkt und sich eingesetzt. Dafür danken wir ihm. Und dafür erhält er gleich jetzt dieses schöne Ei.

Montag, 7. März 2011

Hellmut Kuby - Baumeister des Friedens

Seit 27 Jahren verleiht der Ortsverein der SPD in Nürtingen am Abend des Aschermittwochs in der Nürtinger Kreuzkirche das Ei der Heckschnärre. Über diesen Faschingsorden, der als Gegengewicht gegen die politischen Aschermittwochsreden der bayerischen CSU erfunden worden ist, hat man in letzter Zeit schon viel geschrieben. Der Frickenhäuser Verleger Dr. Peter Sindlinger hat zur Geschichte dieser Verleihung ein Buch gemacht, in dem - neben mir - der Ei-Mitbegründer Helmut Nauendorf sowie die beiden Nürtinger SPD-Politiker Bärbel Kehl-Maurer (Ortsvereinsvorsitzende und Stadträtin) und Dr. Hans-Wolfgang Wetzel (Fraktionsvorsitzender der SPD im Nürtinger Gemeinderat) die Preisträger und deren Eigenheiten Revue passieren lassen.
Der Nürtinger Wappenvogel Heckschnärre im Giebel des Rathauses.
Jedes Jahr wird am 11.  November durch die Eierkommission der Preisträger des Folgejahres bestimmt. Für dieses Jahr 2011 ist der Nürtinger Architekt Hellmut Kuby auserwählt worden, das Ei entgegen zu nehmen. Es ist mit dem Auftrag zum Brüten verbunden, so lange, bis daraus wieder eine Heckschnärre schlüpfen würde.
Die lebendige Heckschnärre hat Nürtingen längst verlassen, nicht zuletzt deswegen, weil ihre Flussauen mehr und mehr zugebaut worden sind. Aufrecht und laut schärrend und schnärrend hat sie früher ihr Revier verteidigt. Dieses Attribut gab das ideelle Bild ab, aus dem dieser Orden geboren worden ist: Ausgewählt werden Männer und Frauen, die genau dieses getan haben - natürlich im übertragenen Sinn zu verstehen - bezogen auf unsere Stadt und ihre Entwicklungslinien, ihre Werte und Vorzüge, die nicht selten zur Disposition gestellt werden. Die Galerie der Eierträger reicht bis 1984 zurück. Der Nürtinger Journalist Jürgen Gerrmann war der erste Preisträger. Viele bedeutende Köpfe folgten.
Im Jahr des ersten Irakkrieges wurde die Verleihung ausgesetzt. Stattdessen gab es eine literarische Stunde mit Szenen, Gedichten und Aktionen zu Elend und Dummheit des Kriegführens. Keine zehn Jahre später hat es die deutsche Öffentlichkeit hingenommen, dass die Schröder-Fischer-Regierung einen völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz unter Beteiligung der deutschen Luftwaffe geführt hat. Seither scheint Krieg - im Ausland - die Deutschen nicht zu mehr zu stören. Auch nicht der zweite Irakkrieg, der nachweislich ein auf Propagandalügen gebauter völkerrechtswidriger Alleingang der Amerikaner und Briten gewesen ist. Auch die jetzige rechtskonservative deutsche Regierung hat den Krieg in Afghanistan viel zu lange als Einsatz der Entwicklungshilfe verniedlicht. Dies ist für Hellmut Kuby eine nicht hinzunehmende Verirrung.
Kuby ist Pfälzer aus Edenkoben. Die Biografie seiner Familie, geschrieben von seinem Onkel Erich Kuby, trägt den Titel Lauter Patrioten. Seit über 50 Jahren lebt und wirkte Hellmut Kuby in Nürtingen als Architekt der Werkgemeinschaft Weinbrenner, Kuby, Rehm & Maier. In seinem Skizzenbuch sind viele bedeutende und europaweit gerühmte Bauwerke konzipiert worden. Sein Umbau des berühmten Haus auf der Alb, einer Begegenungsstätte in Urach, war ein maßgebliches Projekt. Das Haus auf der Alb ist in Wikipedia dokumentiert:
In Nürtingen hat Kuby 1970 das Kreiskrankenhaus gebaut, zuvor die Versöhnungskirche und Teile des Stadtteils Roßdorf. Seine Verdienste als Revierverteidiger hat er sich erworben durch klugen und entschiedenen Einsatz für oder gegen Bauprojekte, die seiner Meinung nach sinnlos gewesen wären. Zum einen die Planung von Atomschutzbunkern unter Neubauten von Supermarkt und Rathaus. Und schließlich, in jüngerer Zeit, Abriss und aufgeblasener Umbau des Hölderlinhauses zwischen Neckarsteige und Schloßgartenstraße.

Kuby nennt sich „von den Nationalsozialisten verführt“, hat im Sommer 1945, nach anderthalb Jahren Segelschulschiff der Marine, als Zwanzigjähriger die Einsicht gewonnen, dass Krieg sich nicht wiederholen dürfe und dass er seine Jugend einer verbrecherischen Politik verschenkt hatte. Seither hat er sich zeitlebens für eine Welt des Friedens eingesetzt, spürbar in dieser Stadt. „Im Alter von zwanzig Jahren bin ich von diesem Irrtum geheilt worden“, sagt er selbstkritisch bis heute.
Nachdem Hellmut Kuby als Eierträger bestimmt war, hat er mich gebeten, die zur Liturgie der Verleihung gehörende Laudatio zu übernehmen. Das tue ich gerne, und ich freue mich auf den Aschermittwochabend.
Beginn ist um 19 Uhr. Die Veranstaltung wird musikalisch bereichert durch eine Klezmer-Band, der Hellmut Kuby nahe steht. Nach dem offiziellen Teil gibt es im Dachgeschoss der Kreuzkirche das legendäre Fischbüffet, das die Damen der SPD zusammenstellen. Eingeladen sind alle Bürgerinnen und Bürger. Die Kreuzkirche hat Platz für knapp 200 Personen. Wer einen Sitzplatz will, der komme rechtzeitig.

Totte Hosse

War gegen 11 Uhr im Roßdorflädle zum Einkaufen. Fast alle Parkplätze belegt. Auf den Straßen und Wegen niemand. Im so genannten Ladenzentrum insgesamt fünf Personen, mit vieren hab ich geredet. Darunter eine lachende Bürgerin, eine geschäftige Bürgervereinigungsschattenvorsitzende im Kassendienst, ein wortkarger Gemeinderatsfraktionsvorsitzender, eine schmucke Pfarrerin, zwei Jungs beim Flaschen Abgeben. Andere Menschen habe ich nur von der Ferne gesehen. Zwei in der Apotheke, bedient von drei weiß gekleideten Pharmazeutinnen. Drei beim Bäcker, bedient von einer charmanten Dame. Einer Menschin also. Zwei Menschen in der Bankfiliale an den Automaten. Hinterm Tresen drei. Die Postagentur, einquartiert in der Hochzeitsmodenzentrale hat vormittags geschlossen. Vor dem Polizeirevier keine  besonderen Vorkommnisse.

Das dürfte sich bald geändert haben, denn die einzige tagsüber vitale Infrastrukturperle des Stadtteils würde demnächst zum traditionellen Sturm auf das Polizeirevier antreten: die Kinder vom Kindergarten Dürerplatz. Die entern gleich das Revier, angeführt von Erzieherinnen, die zu allem entschlossen sind. Ziel ist die Fesselung der Beamten auf ihren Bürostühlen. Sehr witzig. Schüsse fallen seit Jahren keine.

Die Musik zum folgenden Absatz:


Am frühen Nachmittag wird die eingespielte Bande dann die Ba-Ba-Ba-Bankfiliale überfallen. Danach gibt´s ein Büffett der Süßigkeiten für die lieben Kleinen. Gegen 17 Uhr werden im Stadtteil die Gehsteige hochgeklappt, und die Häuser warten auf die Heimkehr der Arbeitnehmer, um sie geborgen durch die Nacht zu hüten.


Das ist das Roßdorf, mein Stadtteil, das infrastrukturelle Stiefkind der Stadt. Russdorf sagen die einen, Schlafstadt die anderen, teure Heimat die dritten. Geld fließt in dieser Stadt überall hin, nur nicht den Berg herauf zu uns. Angeblich, weil man keines hat. Tatsächlich aber, weil es hier keine Interessenvertretungen gibt. Nur überfallene Beamte und Endverbraucher ohne Auto. Das muss sich ändern.

Liebe Leser, nehmen Sie hier ein erstes Auge voll Roßdorf, wie es in lieblicher Bläue west und lebt:
Der Nürtinger Stadtteil Roßdorf. Fotografiert im Frühling 2001 (Foto: RW)

Rosenmontag

Am Rosenmontag gab es früher in der Nürtinger Stadthalle den Rosenmontagsball. Das war der Ball der IG Metall. Tage davor gab es den Kolpingsball der katholischen Kolpingfamilie und den Böhmerwaldfasching. Das Schönste war für mich, auf der Bühne zu stehen und die Tanzmusik zu machen. Und hinter der Bühne ging´s die Treppe hoch zur Sektbar. Dort hat man so viel gesoffen, dass der Boden immer feucht war vom Übergschwappten der Übergeschnappten. In den Spielpausen sind wir Musiker sofort nach oben und dort von unseren Fans freigehalten worden. Und die maskierten Damen haben mich und die anderen sechs der Kapelle geküsst und genudelt. Die Heidi und die Hanne habe ich aber immer erkannt, trotz Verkleidung, am Küssen. Und die Rose auch. Rose küsste etwas fordender als die beiden Blondinen. Heidi war leidenschaftlich, und Hanne hatte den blütenweichsten Mund der gesamten Nürtinger Jugend, soweit ich eben Vergleichsmöglichkeiten hatte. Und die Mädels haben gesagt: Spiel mir noch einmal Immer, immer wieder geht die Sonne auf oder Wir lassen uns das Singen nicht verbieten. Und wenn ich dann Immer, immer wieder geht die Sonne auf gesungen habe, dann waren die Schönen entzückt und haben Udo, Udo! gerufen, und für einen Moment war ich dann Udo Jürgens, also rein feelingmäßig. War aber cool.
Heute turnen an der Fasnet verschiedene Zünfte und Fasnetsvereine durch die Dörfer. Und anderntags liest man davon in der Nürtinger Zeitung. Die Nürtinger Fasnet tut sich schwer, seit ihrer Erfindung im Rathaus. Dieses Jahr hat man sogar auf den Umzug der Kindergärten verzichtet, weil sich zu wenige gemeldet hatten. Kein Wunder. In den Kindergärten hat man andere Sorgen als den Nürtingern vorzumachen, sie hätten eine Fasnet.
Eigentlich gibt es nämlich in Nürtingen gar keine Fasnet, weil es hier noch nie eine Fasnet gegeben hat. Die gibt´s richtig nur dort, wo sie katholisch sind, also südlich von Tübingen und östlich der Alb. Hier bei uns nur in Neuhausen und in Wernau. Dort ist man schon immer hauptsächlich katholisch gewesen. Das ist aber eine historische Sache, dass auf diesen Inseln die Rechtgläubigkeit gehalten hat. Die Oberschwaben sagen zu den Evangelischen Wüstgläubige. Das ist nicht nett, aber so ganz böse auch wieder nicht. Weil halt die Schwaben so miteinander umgehen. Ich bin auch katholisch aber in Nürtingen unter gnadenloser Wüstgläubigkeit groß geworden. Deshalb hab ich es nie so mit der Fasnet gehabt, außer früher, wo man Sachen tun konnte, die man sonst nicht tun konnte. Aber damit ist jetzt eher eine dürftige Zeit. Deshalb gehe ich nicht mehr hin.
Früher habe ich Musik gemacht zur Fasnet, mit einer Kapelle aus sieben Mann. Die nannte sich Red Lion. Den blöden Namen hatte ich erfunden. Beim Rosenmontagsball haben wir nie gespielt, aber bei den Kolpingbrüdern und den Böhmerwäldlern, weil wir sozusagen eine mehrheitlich katholische Band waren. Heute sind schon vier Lions tot: der Günne, der Heini, der Schorsch und der Karl. Also Posaune, Schlagzeug, Trompete und Saxofon. Der Zäps und der Steppke und ich leben noch, also Bass, Gitarre und Keyboards. Da sieht man wieder, dass man als Rocker länger leben kann als Bläser, wenn man nichts übertreibt. Wir haben aber auch keine Lust mehr auf Fasnet. Nichts verlockt mehr. Saufen und Küssen kann man das ganze Jahr hindurch, werktags und sonntags. Saufen lässt man aber am besten bleiben, und küssen ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Musik mache ich immer noch, das ganze Jahr durch, werktags und sonntags. Ein bissle Jazz, ein bissle Kirche, was so anfällt.


In der Zeitung steht heute mal wieder nicht viel. Lauter Fotos von Fasnetsnarren und Rathausstürmern und so. Was die Narren halt alles so machen, wenn sie sich die fünfte Jahreszeit in den Kalender geklemmt haben. In zwei Tagen ist es dann vorbei. Dann ist Aschermittwoch. Und dann verleiht die Nürtinger SPD das Ei der Heckschnärre. Das macht sie jedes Jahr am Aschermittwoch, seit 27 Jahren. Heuer kriegt ein bekannter Nürtinger Architekt das Ei. Er hat gewünscht, dass ich seine Laudatio halte. Das mach ich auch. Davon bald mehr.